Wissenschaftliche Forschung und implizite Metatheorien

Anmerkungen zu wissenschaftstheoretischen Positionen

von Markus Frauchiger, CH-3012 Bern

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Gadamer - Wahrheit und MethodeHans-Georg Gadamer - Wahrheit und Methode
Das Hauptwerk des Nestors der deutschen Hermeneutik
Wittgenstein - Tractatus logico-philosophicusLudwig Wittgenstein - Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung
Wittgensteins Traktat aus dem Jahr 1921 gehört zu den zugleich legendären und unvermindert gegenwärtigen Texten des 20. Jahrhunderts
Feyerabend - Wider den MethodenzwangPaul Feyerabend - Wider den Methodenzwang
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  • Aus dem letzten Kapitel aus "Psychotherapeutische Modelle und ihre Wirkfaktoren"

    (...) Wie ich schon mehrmals erwähnt habe, steht auch diese Forschungsarbeit [gemeint ist die Lizentiatsarbeit des Autors, Frauchiger 1997a] ganz in einer herkömmlichen Tradition. Was bedeutet dies aber genauer ? Welche Alternativen gäbe es ? Welches sind die philosophischen Grundlagen der (psychologischen) Forschung ?
    Um diese und ähnliche Fragen geht es mir in diesem [letzten] Kapitel.

    Ich denke, um wieder zum ersten Kapitel dieser Arbeit (Liz- bzw. Master-Arbeit) zurückzukommen, dass es heute in der Psychotherapieforschung darum gehen sollte, die Forschung zur Differentiellen Indikation voranzutreiben, statt sich in Wirksamkeitsvergleichen gegenseitig aufzureiben und zu "besiegen" versuchen. Die heute etablierten und bis auf die Familientherapien hier untersuchten "grossen" Psychotherapiemethoden sollen m.E. ihren Stand behalten - nur täte vermehrtes Achten auf die Indikation für bestimmte Patienten mit bestimmten Problemen (z.B. Angststörungen als Indikation für kognitiv-behaviorales Vorgehen) dringend Not.
    Damit eine solche Differenzierung in der Diagnostik, in der Intervention und in der psychosozialen Versorgung allgemein vorgenommen werden kann, ist es m.E. vonnöten, auch in der Theoriebildung differenziert vorzugehen. Deshalb möchte ich zum Abschluss noch einmal etwas ausholen und auf ganz grundsätzliche Belange zu sprechen kommen: auf die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Verlassen wir also für einen Augenblick die vertrauten Gefilde "unserer" Klinischen Psychologie und begeben wir uns in eine "exzentrische Position" (Petzold), wobei wir unser Fachgebiet als eines von Vielen betrachten.

    Die Gemeinschaft der Wissenschaftler und Wissenschaften ist traditionell grundsätzlich gespalten in die Natur- und die Geisteswissenschaften. Vielerorts (so auch in Bern) schlägt sich dies durch eine weitgehend getrennte Organisation der Universitäten in Fakultäten nieder: Phil.nat. (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie usw.) und Phil.hist. (die verschiedenen Sprachen, Geschichte, Philosophie usw. sowie (sehr oft) auch die Psychologie). Daneben gibt es bekanntlich noch weitere Fakultäten: Rechts- und Sozialwissenschaften, Theologie und Medizin.

    Wo sollen wir nun die Psychologie zuordnen: Leitet sie sich aus den Natur- oder den Geisteswissenschaften ab ? Wo steht sie heute ? Ist es möglich, die beiden Paradigmen zu integrieren ? etc.

    Diese Standortbestimmungen für die verschiedenen Disziplinen vorzunehmen war seit jeher Aufgabe der Philosophie, insbesondere der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie:

    Eine relativ frühe Annahme (Positivismus) in der Psychologie war die, dass aus einer "Befragung der Natur" durch Verallgemeinerung und Abstraktion die Wahrheit in Form von Naturgesetzen zum Vorschein käme (naiver Empirismus). Doch die Natur kann dem Forscher nicht offenbaren, welche Aspekte beobachtenswert sind - er muss also Fragestellungen, Begriffe und Theorien an sie herantragen, um unter den praktisch und theoretisch unbegrenzten Beobachtungsmöglichkeiten eine Auswahl treffen zu können.

    In einer modifizierten Form von Positivismus, dem Kritischen Rationalismus muss gemäss Karl Popper (1972) zwischen der Entstehung und der Ueberprüfung von Theorien unterschieden werden. Aus der Theorie abgeleitete Hypothesen (in Wenn-dann-Sätzen) müssen experimentell überprüft werden. Gemäss dem Falsifikationsprinzip können gemäss positivistischer Lesart immer "wahrere" Theorien erstellt werden, bis schlussendlich (so der Wunschtraum oder aber der Albtraum vieler Psychologen) die ganze Psyche des Menschen messbar und vorhersagber wird.

    Dieser Auffassung von fortschreitender Verwissenschaftlichung durch quasi "Versuch und Irrtum" (die experimentelle Methodik) hat Thomas Kuhn bereits 1962 stark widersprochen. Ausgehend von Physik und Chemie kommt er zur Auffassung, dass das jeweilige Paradigma ("Weltsicht", "Modell des Menschen" etc., siehe Kapitel 2.3) die Art der Problemlösung bestimmt. Dieses "Netz von Ueberzeugungen und selbstverständlichen Denkweisen" (Legewie 1992) trifft die oben angesprochene Auswahl. Es regelt die für "wissenschaftlich" gehaltenen Fragestellungen und die zugelassenen Methoden (auch eine Auswahl!) und letztlich die aufgestellten Theorien.

    Kuhns Position entspricht wissenschaftstheoretisch gesehen dem Konstruktivismus: die Wahrheit einer Theorie hängt nicht in erster Linie von der Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit ab (Abbildtheorie der Wirklichkeit), sondern vom Konsens der Fachleute (Konsenstheorie der Wirklichkeit).

    Zur "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (Kuhn 1976) möchte ich nur sagen, dass die Psychologie sich, streng genommen, immer noch im "Frühstadium" (Konkurrenz der Paradigmen) einer Wissenschaft befindet ...

    Wittgenstein (1960) diagnostizierte eine "Begriffsverwirrung" innerhalb der Psychologie. Ein Grund dafür sind m.E. die stark differierenden Erkenntnisweisen von Natur- und Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey (1894) hat die einflussreiche Formel geprägt: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir". Wilhelm Wundt, der Begründer der modernen Psychologie ging ebenfalls von einer Zweiteilung unseres Faches aus (bei ihm: die physiologische und die sog. Völker-Psychologie). Erst später, durch den Einfluss des Behaviorismus, wurde die positivistische, naturwissenschaftliche Wissenschaftsauffassung auf die gesamte Psychologie übertragen. Diese "Vereinnahmung" dauert m.E. trotz "Kognitiver Wende" bis heute an.

    Das Descart’sche Maschinen- bzw. (moderner) Computer-Modell impliziert eine Zerlegbarkeit des Menschen in messbare Variablen. Diese Sichtweise favorisiert natürlicherweise ein empirisch-nomothetisches Vorgehen, wie es sich in immer raffinierteren statistischen Methoden heute an den meisten Universitäten darstellt.

    Es gibt aber auch ein grundsätzlich anderes Wissenschaftsverständnis: Die Hermeneutik basiert auf der viel weiter in die Menschheitsgeschichte zurückreichenden Tradition des Naturverstehens durch "Zeichendeutung", wie sie z.B. Jäger und Medizinmänner praktiziert haben. Die Natur ist nach dieser Auffassung ein Buch, dessen Wörter und Sätze der Kundige auf der Grundlage seines Erfahrungswissens lesen und auslegen kann. Die Bedeutung eines Zeichens erschliesst sich nicht aufgrund von mathematischen Gesetzen, sondern durch den Zusammenhang, in dem es steht. Es wird eine Zirkularität postuliert: zwischen dem Ganzen und dem Detail, aber auch zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt. Diese Interpretationen sind zudem geschichtlich bedingt, wie uns Gadamer (1960) lehrt. Wie in einem Zerrspiegel (geschichtlich-sprachliche Deutungsmuster) nehmen wir die Umwelt und uns selbst wahr. Gemäss Gadamer können wir aber durchaus unsere Grenzen des Erkennens im Austausch mit dem Erkenntnisgegenstand schrittweise erweitern - ohne dass aber jemals eine geschichtslose, "objektive" (wie sie der Positivismus postuliert) Erkenntnis erreichbar wäre.

    Die folgende Abbildung (aus Legewie 1992) stellt die beiden grundsätzlichen Formen von Wissenschaftsauffassung einander gegenüber:

    Legewie, Ehlers, Cartesianisches, Hermeneutisches, Wissenschaftsverständnis, naturwissenschaftlich, geisteswissenschaftlich

    Cartesianisches Wissenschaftsverständnis

    Hermeneutisches Wissenschaftsverständnis

    Abbildung 16: Cartesianisches (naturwissenschaftliches) versus Hermeneutisches (geisteswissenschaftliches) Wissenschaftsverständnis

    Nicht zuletzt seit Gernot Böhmes "Alternativen der Wissenschaft" (1980), wo dieser eine "soziale Naturwissenschaft" postuliert, kommen Vorschläge zu einem integrierten Wissenschaftsverständnis auf: eine Wissenschaftsauffassung, derzufolge statt eines beherrschenden Paradigmas unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand der Psychologie einander ergänzen müssen.

    Die "Allgemeine Systemtheorie" (z.B. Bronfenbrenner, Boulding, Parsons, Luhmann u.a.) stellt ein solches integratives Verständnis dar; insbesondere die Rückbezüglichkeit vom Objekt auf das Subjekt und umgekehrt, ist der hermeneutischen Sichtweise sehr ähnlich (s.o.). Sie wie auch die daraus hervorgegangene Chaostheorie (z.B. Ciompi 1994) stammen interessanterweise aus einer der "härtesten" Naturwissenschaften, der Physik (siehe z.B. Capra 1984).

    Aber auch Biologen wie Humberto Maturana und Francisco Varela postulieren (im "Baum der Erkenntnis" 1987), dass Lebewesen ihre Umwelt entsprechend der eigenen Struktur "erkennen". Auf weitere Konstrukte wie Autopoiese (Selbstorganisation), Synergie oder soziale Systeme kann ich an dieser Stelle leider nicht näher eingehen (vgl. aber von Cranach 1995, Capra 1984 u.a.m.).

    Zur Psychologie zurückkehrend möchte ich noch insbesondere hinweisen auf die Handlungsmodelle (z.B. von Cranach 1996). Danach sind Handlungen definiert als absichtsvolle menschliche Tätigkeiten, die in einem Sinnzusammenhang stehen; nicht die objektiven Reizqualitäten sind wichtig, sondern die Bedeutung, die der Mensch diesen Reizen gibt. Der Sinn und die Absichten menschlichen Handelns erschliessen sich dem psychologischen Forscher nicht durch objektivierende Beobachtung, Experiment und Messungen, sondern durch "teilnehmende" Beobachtung und Gespräche, also durch kommunikative oder dialogische Methoden. Gerade diese Aspekte des Handlungsmodells bedingt aber für seine Kritiker seine "Unwissenschaftlichkeit" (s.u.).

    Das folgende Zitat zu diesem Thema stammt wiederum von Legewie (1992, S. 26):

    "Nach dem Handlungsmodell stellt sich die experimentalpsychologische Versuchssituation als eine sehr spezielle und einseitige soziale Interaktion dar. Die Reaktionen der Versuchspersonen im Experiment sind nicht von den objektiven Reizen, sondern von deren Interpretation durch die Vp abhängig. Die angestrebte Objektivität ist also auch im Experiment nicht erreichbar. Zudem lassen sich die eingeschränkten Reaktionen im Experiment nur sehr beschränkt auf komplexe Alltagssituationen übertragen. Somit liefert die experimentelle Methode in der Psychologie Ergebnisse, die für die Praxis häufig unbrauchbar sind.

    Als Alternative entwickelte der Sozialpsychologe Kurt Lewin während der Nachkriegszeit in den USA die Handlungs- oder Aktionsforschung: "Die für die soziale Praxis erforderliche Forschung läßt sich am besten als Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Techniken kennzeichnen. Sie ist eine Art Tat-Forschung ["action research"], eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung."

    Die Aktionsforschung läßt sich durch folgende Besonderheiten kennzeichnen:

    a) Die Problemstellung erfolgt nicht primär aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern entsteht aus konkreten Mißständen für eine soziale Gruppe.

    b) Das Forschungsziel besteht nicht vorrangig im Überprüfen theoretischer Aussagen, sondern in der praktischen Veränderung der untersuchten Problemlage.

    c) Die Problemlage wird als sozialer Prozeß aufgefaßt, aus dem nicht einzelne Variablen isoliert und als "objektive Daten" erhoben werden können, sondern die Datenerhebung wird als Teil des sozialen Prozesses aufgefaßt und interpretiert.

    d) Der Forscher gibt seine Distanz zum Forschungsobjekt auf, er ist selbst in den untersuchten Prozeß einbezogen, von der teilnehmenden Beobachtung bis zur gezielten Einflußnahme auf die soziale Gruppe. Ebenso geben die anderen Gruppenmitglieder die Rollen von Befragten und Beobachteten auf, indem sie sich aktiv an der Zieldiskussion, Datenerhebung und Auswertung beteiligen" (S. 26).

    Aktionsforschungsprojekte entstanden in der Bundesrepublik Deutschland vorwiegend im universitären Bereich sowie in der Randgruppen- und Stadtteilarbeit. Aktuelle Beispiele finden sich auch in Gemeinwesenprojekten in Lateinamerika, die unter der Anleitung von Sozialpsychologen standen. Schwierigkeiten der Aktionsforschung sind in ihren theoretischen Defiziten und in den Zufälligkeiten des jeweils zwischen Forschern und Beforschten ablaufenden Gruppenprozessen begründet.

    Das (fast ausschließlich) vom Forscher kontrollierte Laborexperiment und die (weitestgehend) von den Beforschten bestimmte Aktionsforschung bilden Extrembeispiele psychologischer Methoden. Zwischen diesen Extremen finden sich jedoch auch Übergänge wie das Feldexperiment [z.B. Lewin] und die Feldstudie, bei denen der Forscher zwar in der natürlichen Umwelt der Beforschten arbeitet, seine Forschungsziele und Erhebungsmethoden aber aus einer theoretisch begründeten Fragestellung herleitet. In der psychologischen Praxisforschung muß im Einzelfall entsprechend der Zielsetzung und sozialen Situation entschieden werden, inwieweit eine distanzierende Trennung zwischen Forschern und Beforschten sinnvoll und notwendig ist.

    Meines Erachtens würde eine solche Verschränkung von Idiografik und Hermeneutik (s.u.) einen sehr grossen Fortschritt in der Psychotherapieforschung bewirken. Hier könnten wir Klinischen Psychologen einiges lernen von unseren Kollegen aus der Sozialpsychologie.

    Es gibt aber durchaus auch innerhalb der klinisch-psychologischen Forschung Ansätze zu einem idiographischen Forschungs-Verständnis. Der Artikel von Arnold & Grawe über "deskriptive Einzelfallanalysen" (1989) stellt diesbezüglich fruchtbare Möglichkeiten dar, wie qualitative Forschung aussehen könnte, ohne den empirischen Boden verlassen zu müssen – durchaus eine integrative Orientierung, wie ich sie hier aufzuzeigen versuche.

    Ausserhalb der Klinischen Psychologie haben u.a. Groeben und Scheele ("subjektive Theorien" (z.B. in Jüttemann 1991), "epistemologisches Menschenbild" 1977 etc.), Graumann ("hermeneutische Methoden", Herzog/Graumann 1992), Thomae ("Biographische Methode", z.B. Jüttemann/ Thomae 1987) wertvolle Beiträge geleistet.

    Aus obenstehenden Argumenten geht also hervor, dass eine "wertfreie" Forschung gar nicht möglich sein kann. Vielmehr wird sie beeinflusst vom jeweiligen "Zeitgeist" und den historischen, traditionellen Strömungen.

    Die Kritische Theorie (Habermas 1968) und daraus abgeleitet die Kritische Psychologie (Holzkamp 1983) versuchen dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Leider ist diese Kritik allzuoft mit ideologischen (historisch-materialistischen) Hintergedanken vorgetragen und ihre Wirkung (in der "scientific community") fiel dementsprechend bescheiden aus.

    Seit ein paar Jahren gibt es aber eine ganze Reihe Ideologie-unabhängiger Psychologen wie Groeben/Scheele (bereits 1977), Rexilius (1989, 1991), Jäggi (1991), Thomae (1996), Jüttemann (1987), Graumann (1991) oder Legewie (1992), welche versuchen, die psychologische Forschung der Alltagssituation (der Praktiker) wieder näher zu bringen und so auch den (scheinbaren) Gegensatz von nomothetisch-quantitativer und idiographisch-qualitativer Forschung aufzulösen.

    Kritisiert wird in den genannten neueren Ansätzen die Tendenz der modernen Psychologie, zugunsten einer möglichst grossen Exaktheit alle "Störfaktoren" auszuschalten. Dies deshalb, weil die so gewonnenen Erkenntnisse nur technisch relevant sein können, inwiefern in der Praxis Bedingungen vorliegen, die eine genügend grosse Aehnlichkeit mit den psychologischen Experimentalsituationen haben (z.B. industrielle Arbeitsplatzgestaltung, Düsenpilot-Ausbildung, Autofahrsimulation, programmiertes Lernen, Manualgesteuerte Psychotherapie). In allen anderen wichtigen Anwendungsbereichen, so auch in der alltäglichen Psychotherapiesituation, besteht ein krasser Unterschied zwischen dem komplexen Bedingungsgefüge jeder praktischen Aufgabe und den aus "methodisch einwandfreien" Experimenten gewonnenen Forschungsergebnissen. Die Wissenschaft erhält hier einen "Fetischcharakter" (Legewie 1992) zur Legitimierung rational nicht begründbarer Entscheidungen.


    Vorschläge zu einer Integration von Idiographik und Nomothetik

    Die Frage nach der "richtigen Art Psychologie zu betreiben" (Grawe et al. 1990) ist von höchst aktueller Bedeutung:

    - Es geht in der Schweiz und in Deutschland darum, die Psychotherapie gesetzlich (besser) zu verankern und zu regeln (politische Ebene).

    - Die Frage der Kostenübernahme steht ebenfalls zur Diskussion (ökonomische Ebene).

    - Die wissenschaftstheoretische Einbettung der Psychologie im Kanon der Wissenschaften ist ebenfalls noch völlig offen (wissenschaftliche Ebene, siehe oben)

    - Viele "interne" Fragen der Organisation in Verbänden, der ethischen Richtlinien, der Abspaltung bzw. Annäherung der einzelnen Verfahren etc.

    Ich möchte aus meiner SASB-Seminararbeit (Frauchiger 1997c) zitieren:

    "Ich erhoffe mir persönlich, dass mittels neuerer, qualitativerer Messmethoden die Kluft zwischen naturwissenschaftlich-empirischer einerseits und geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Psychologie und Forschung verringert werden kann; ganz im Sinne von Kurt Reusser, welcher die sog. Kognitive Wende als "Annäherung an phänomenologische Problemstellungen" (Reusser 1990) bezeichnet. Dies, obwohl ich seine Sichtweise als etwas zu optimistisch bezüglich der angesprochenen Versöhnung halte.

    Für mich zeigen sich gerade bei der Beziehungs- bzw. Kontakt-Dimension die Grenzen des nomothetisch-empirischen Wissenschafts-Paradigmas sehr deutlich. Es ist der Eindruck vieler (z.B. Fäh-Barwinski 1995 oder Petzold 1993), dass das "Wesentliche", wie gerade der "therapeutic bond" (Orlinsky/ Howard 1986), mittels naturwissenschaftlicher Messmethoden nicht adäquat erfasst werden kann. Deshalb halte ich die SASB-Methode für eine vielversprechende Erweiterung des bisherigen, in Subjekt-Objekt-Trennung gehaltenen, Forschungs-Paradigmas.

    Ich komme aus obenstehenden Gründen zum Schluss, dass die wissenschaftliche Forschung gerade im Bereiche der Psychotherapie gut daran täte, phänomenologisch-deskriptive und hermeneutisch-idiographische Forschungsmethoden zusätzlich zum bestehenden Methoden-Arsenal aufzunehmen. Qualitative Einzelfallanalysen, Kasuistiken, kurz: eine Geschichten-erzählende, hermeneutische Vorgehensweise würden der unterkühlten, von Statistik und Mess"mitteln" beherrschten Psychotherapieforschung das verlorengegangene Leben wieder einhauchen helfen. (...)

    Eine Attraktivitätserhöhung im "Feld" der freipraktizierenden Psychotherapeuten ist gerade heutzutage sehr vonnöten, wenn unsere Arbeit wieder in den Leistungskatalog der Schweizer Krankenkassen aufgenommen werden soll; eine solche Berücksichtigung kann nur mittels Qualitätskontrolle erfolgen, hierin sind sich alle Parteien im grossen und ganzen einig (z.B. Fäh-Barwinski 1995 einerseits oder Grawe und Braun 1994 andererseits). Innerhalb eines solchen Qualitätsmanagements könnte die SASB-Methode m.E. wertvolle Dienste leisten."

    Unter den vielen oben angedeuteten Vorschlägen und Sichtweisen (z.B. Biographische Methoden, Qualitative Forschung, Einzelfalluntersuchungen, Tagebuchanalysen, Subjektive Theorien etc.; sehr zu empfehlen in diesem Zusammenhang sind die Zusammenstellungen von Herzog/Graumann 1992, Jüttemann 1989 und 1991 sowie Jüttemann/Thomae 1987) möchte ich eine Konzeption herauspicken, nämlich die des "forschenden Praktikers" (Jäggi 1991). Eva Jäggi schreibt dort:

    "Der Psychologe sollte sein: der kritikfähige, forschende Praktiker – gleichgültig, ob er sich später auch als Wissenschaftler begreift oder ein sogenannter "reiner" Praktiker wird (...). Das Zentrum seines Berufes ist das Erreichen einer reflexiven Meta-Ebene in Bezug auf alle gängigen Psychologien und Methoden, die Interaktion und Innerseelisches betreffen (...). Wir haben es hier mit einer Trias von Praxis, Theorie und Methodik zu tun, die in der Person des Psychologen zusammentreffen sollte (S. 37).

    Es ist eine PsychologIn, die imstande ist, die vielen Erfahrungen mit Menschen systematisch (d.h. also: wissenschaftlich) so zu reflektieren, dass er daraus neue Hypothesen, Konzepte und Phänomene erarbeiten kann (S. 41).

    Der forschende Praktiker ist ein Mensch, dem jederzeit allgemeine theoretische Gesichtspunkte bei dem, was er tut, zur Verfügung stehen, damit er sein Tun kritisch reflektierend und forschend begleiten kann" (S. 46).

    Diese Zitate von Eva Jäggi gehen in die Richtung des oben erwähnten "Self-Monitoring"; auch von Psychotherapeuten während ihrer täglichen Arbeit. Die Auflagen von Seiten des Staates und der Kostenträger können wir als Chance wahrnehmen, unser Tun selbstkritisch zu beleuchten und so zu grösserer Transparenz und Anerkennung in der Gesellschaft zu finden.

    David E. Orlinsky (ein gestandener Forscher) verweist in einem recht persönlichen Artikel (1994) darauf, dass ein Psychotherapeut von möglichst vielen Lehrmeistern im persönlichen Kontakt lernen sollte ("learning from many masters"). Die Zugehörigkeit zu einer "scientific community" (vgl. auch Petzold 1993c) ist wichtig in Bezug auf Identität, aber auch als Ort des Lernens von Methoden im persönlichen Diskurs mit erfahrenen "Meistern" ihres Faches.

    So gesehen, hat Psychotherapie viel zu tun mit Lebenskunst (Rolf Verres 1997). Die beste Methode hat keine Wirksamkeit, wenn der Mensch dabei verloren geht. Aehnlich einem Musiker oder Maler entsteht in hermeneutischen Ko-respondenz-Prozessen (Petzold) zwischen Therapeut und Klient mit der Zeit ein ganzheitliches "Bild" des Verhaltens und Erlebens des Klienten.

    Rainer Holm-Hadulla (1996) stellt eine "Allgemeine Psychotherapie" auf der Basis von Gadamers Hermeneutik (1960) dar. Sie soll nicht in Konkurrenz stehen zu Grawe‘s gleichnamiger Konzeption. Sie zeigt jedoch auf, dass "Allgemeines" auch aus anderen Grundhaltungen als der Kognitiven gesehen werden kann.

    Wenn die in der Psychotherapieforschung Tätigen schon nur die Aussagen der drei letztgenannten Autoren (als Beispiel) verinnerlichen würden, würde die Forschung mit Sicherheit für die Praktiker interessanter und diese würden sich vermehrt auch daran beteiligen wollen.

    Mit diesen methodischen Hinweisen würde die psychotherapeutische Forschung vom Elfenbeinturm der Universitäten vermehrt unters "Volk" (die Psychologen und Therapeuten "draussen im Feld") gebracht, welche dann mit mehr Enthusiasmus bei der Sache wären; weil es sie unmittelbar betrifft und sie mitreden können in der Qualitäts- und Wirksamkeitsdiskussion.

    Mit relativ wenig Aufwand (PC, Datenerfassungsprogramme und Drucker für die Figurationen) würde es für jeden und jede PsychotherapeutIn möglich, in den eigenen vier Wänden seine/ihre Arbeit immer wieder zu überprüfen und zu beforschen. Eine einzurichtende zentrale Datenbank (wie sie anlässlich des letzten FSP-QM-Hearings im Januar diskutiert wurde) würde Daten sammeln, womit die Qualität (Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität) kontinuierlich verbessert würde. Durch ein Feedback-System ergäbe sich eine Selbstorganisation (Systemtheorie!) der beteiligten Berufsleute. Eine von aussen (z.B. durch die Krankenkassen) verordnete, rein quantitative Erhebung von Daten würde zu keiner Selbskontrolle führen, sondern lediglich zu einer mühsamen Pflicht, welche niemandem richtig nützen würde.

    Ein solches Qualitätsmanagement würde eine ideale Kombination beider oben besprochenen methodischen Paradigmen ergeben: individuelle, qualitative Erfassung und statistisch-quantitative Verarbeitung der Daten.

    Ich denke, solche Massnahmen bedeuten nicht nur eine Konzession den Kostenträgern gegenüber, sondern ein tagtägliches "Monitoring" der eigenen Arbeit – der damit verbundene Arbeitsaufwand lohnt sich auf jeden Fall.

    Es ist jetzt hier natürlich nicht der Ort um über Qualitätsmanagement zu schreiben. Dies habe ich vor in einem nächsten Projekt zu tun.


    Synopse

    Für folgende Zusammenschau der bisher besprochenen oder angeschnittenen Themen habe ich Anleihen gemacht bei Walter Herzog ("Modell und Theorie in der Psychologie" 1984), Hilarion Petzold ("Tree of Science" und "Integrationsparadigma" 1993a) und Andreas Blaser ("Ebenen der psychotherapeutischen Wirkung" 1992). Es beinhaltet ebenfalls die Tabellen 1 und 5 sowie die Abbildungen 1, 3 und 6 (plus je ein Beispiel oder einen typischen Vertreter) dieser Arbeit und soll diese in einer anschaulichen Weise abrunden und beschliessen.

     

    – Ebene I: Metatheorien (Grundkonzept, Menschenbild etc.)

    Erkenntnistheorie – Wissenschaftstheorie – Anthropologie – Gesellschaftstheorie – Ethik

    Positivismus – Empirismus – Humanismus – Existentialismus (Sartre) – Systemtheorie (Bronfenbrenner) – Chaostheorie – Konstruktivismus – Hermeneutik (Gadamer) – Phänomenologie (Merleau-Ponty) – Kritische Theorie/Psychologie (Rexilius) – Historischer Materialismus (Marx) – Kritischer Realismus – Strukturalismus – Kognitivismus (Piaget) etc.

    Psychodynamisch – Behavioral – Kognitiv – Humanistisch – Systemisch – Biologisch – Integrativ

     

    – Ebene II: Strategien (Verfahren, Therapietheorie)

    Allgemeine Therapietheorie – Persönlichkeitstheorie – Entwicklungstheorie – Gesundheits- und Krankheitslehre (Diathese-Stress-Modelle) – Spezielle Therapietheorie

    Klassische Psychoanalyse – Verhaltenstherapie nach Kanfer oder Meichenbaum – Gesprächspsychotherapie – Gestaltpsychotherapie – Kognitive Therapie nach Beck oder Ellis – Systemische Therapie nach Minuchin oder Satir – Integrative Therapie nach Petzold oder Grawe u.s.w.

     

    – Ebene III: Methoden (Set von Interventionen aus dem Verfahren)

    Prozesstheorie – Interventionslehre – Methodenlehre – Settings

    Freie Assoziation – Systematische Desensibilisierung – Reizkonfrontation – Spiegelung – Hot Seat – Plananalyse – Familienaufstellung – Psychodramatisches Rollenspiel – Kreative Medien – Körperarbeit etc. etc.

     

    – Ebene IV: Interventionen (Aussagen und Handlungen des Therapeuten à Handlungsebene)

    Aktivieren – Stützen – Konfrontieren – Lernen lassen – Suggerieren – Kognitiv / emotional verstehen – emotional / körperlich Ausdrücken lassen – Informieren – den Körper erleben lassen etc.

     

    – Ebene V: Wirkfaktoren (universelle, unspezifische und spezifische)

    Empathie, Wertschätzung, Echtheit (Rogers)

    Hoffnung/Demoralisierung, "Mythos", emotionale Erregung (Frank)

    Affektives Erleben, Kognitives Beherrschen, Verhaltensregulation (Karasu)

    Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung, Klärung, Bewältigung (Grawe)

    Tabelle 19: "Synopse"


    Literatur siehe Frauchiger, M (1997a). Psychotherapeutische Modelle und ihre Wirkfaktoren

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